- Chorprobe
- All-Generationen-Treffen
- Eschwege 2011
Singen im Singkreis
Die Bezeichnung "Singkreis" möchte zwei Aspekte zum Ausdruck bringen: Der Anlass, die Motivation, warum wir zusammen kommen, liegt darin gemeinsam zu singen. Also auf der einen Seite wird das durchaus anspruchsvolle chorische Singen hervorgehoben, zum anderen aber auch der Blick auf die Gemeinschaft geöffnet. Singen als "Gemeinschaftsbildung" könnte man diese Zielrichtung des Singkreises auch umschreiben.
In der Tat kommt es uns bei den Proben und in der Freizeit immer auch auf die Umstände des Singens an, auf die Situation, in der wir uns befinden, wenn wir singen und auf die Ziele, die wir damit verbinden.
Wir verstehen uns als Freundeskreis, der durch das gemeinsame Singen und Tanzen zusammengeführt wird. Umgekehrt zeigt die Erfahrung, dass durch das vertraute Miteinander auch Singen und Tanzen eine neue Qualität gewinnen: durch die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen und auch ungewöhnliche Wege zu gehen, um zum Ziel zu gelangen.
Das Singen ist bestimmt durch Reinheit im Ton, durch einen durchsichtigen Klangkörper, durch rhythmisch betontes, dabei tänzerisch-leichtes und bewegtes Musizieren. Das Repertoire reicht von Chören der Renaissance bis zur "gemäßigten" Moderne. Zu den Besonderheiten des Repertoires zählen u.a. die eindringlichen Sätze von Fritz Stolle, des Gründers und langjährigen Leiters des Chores. Bemerkenswert ist, dass viele Sängerinnen und Sänger eine große Zahl von Chorsätzen auswendig singen können. Das ermöglicht eine besondere Form des Miteinander-Singens auch in geselliger Runde.
Text über das Singen im Singkreis aus der Festschrift Erlebte MusikErlebte Musik – über das Singen im Singkreis
Das Singen im Singkreis hat einen Kristallisationspunkt in der Person und im Werk Fritz Stolles. Es ist hier nicht der Ort, erneut ein Porträt Fritz Stolles zu zeichnen und eine Würdigung seiner Persönlichkeit und seines Werkes zu versuchen, sondern hier soll es allein um sein Wirken im Nordsingkreis gehen, dessen musikalische Arbeit und Entwicklung er seit der Gründung des Nachwuchskreises bis Ende der 70er Jahre bestimmt und geprägt hat. Ja es sind Singkreisgenerationen durch seine Musik und insbesondere durch seine Art zu musizieren nachhaltig in ihrem musischen Empfinden geformt worden. Diese starke Prägung durch eine ganz eigene und unverwechselbare Musikalität habe ich selbst mit großer Dankbarkeit noch erfahren dürfen und habe in meiner eigenen Verantwortung als Chorleiter des Nordsingkreises diese bestimmte Ausprägung von Musikalität zu bewahren und weiterzutragen versucht, ungeachtet aller selbstverständlichen und notwendigen Wandlungen und Differenzierungen.
Was macht die besondere Musikalität des Singkreises aus? Gibt es sie eigentlich oder beruht sie auf bloßer Einbildung und Selbsttäuschung der Beteiligten? Es sind die wiederkehrenden Äußerungen von Zuhörern, die den Eindruck einer besonderen Musikalität des Singkreises immer wieder bestätigen. Da ist einmal die Rede von einem musikantischen Singen, die die Lebendigkeit und Lebhaftigkeit des Singens im Blick hat; hierin äußert sich, daß nicht die höchste Perfektion der Sinn des chorischen Singens sein muß, sondern die Freude am gemeinsamen Singen. Mehr oder weniger gebändigte Freude und innere und äußere Bewegtheit bewirken dieses musikantische Singen. Die Zuhörer hören und sehen, daß die Sänger mit Freude bei der Sache sind. Musikalische Bewegung ist keine theoretische oder bloß angestrebte Eigenschaft des Singens, sondern, wie es hier gezeigt wird, sehr real erlebbar und erfahrbar. Der Singkreis gehört zu den wenigen Chören, in denen die Verbindung von Musik und Bewegung nicht nur als Programm formuliert wurde, sondern tatsächlich verwirklicht wird. Musikalische Bewegung ist etwas Körperliches. Das Tanzen soll helfen, Rhythmus als musikalische Bewegung unmittelbar zu erfahren. Doch leider stehen in vielen Kreisen Tanzen und Singen unverbunden nebeneinander und können sich nicht wirklich befruchten.
- Atemübung
Auch andere Charakteristiken des Musizierens im Singkreis, die Leichtigkeit und die Sauberkeit des Singens, haben ihre Ursache in der idealen Verbindung der musikalischen Bewegung mit einer intensiven Körpererfahrung. Ein in sich ruhender und dennoch bewegter Körper bietet die besten Voraussetzungen für eine saubere Intonation, und Leichtigkeit ist nur durch Beweglichkeit auch bei der musikalischen Phrasierung zu erreichen. Dabei darf Leichtigkeit keineswegs mit Kraftlosigkeit verwechselt werden. Auch beim „leichten“ Singen ist ein großer, kraftvoller Chorklang möglich, wo es die Musik erfordert. Aber dieser große Klang wird nicht durch körperliche Kraft oder großen Druck erzeugt, sondern durch die Spannung des Körpers, die auf der Atmung und der Körperbewegung beruht. Es ist hierbei freilich nicht unerheblich, daß die Sänger auch wissen, was sie singen. Denn die Lebendigkeit und das Fließende des Singens lassen sich nicht durch einstudierte dynamische Vortragsformen erreichen, sondern beruhen auf einer intensiven nach innen gerichteten „Kommunikation“ während des Singens. „Wissen“ meint hier nicht eine umfassende theoretische Reflexion über die eigene Art des Singens, sondern setzt einen Prozeß der Verinnerlichung von „Fakten“ voraus, die auch die Probenarbeit mit bestimmen, in denen die „Gesetze“ von Spannung und Entspannung aus der Atmung und in der musikalischen Bewegung erfahren und erlebt werden. Mich hat in diesem Sinne immer wieder beeindruckt, wie auch ohne historisches Wissen allein aus der konsequenten Anwendung der musikalischen Grundregeln gleichsam Idealinterpretationen bei den „Alten Madrigalen“ möglich wurden, in denen musikalischer Fluß und musikalische Sprache zu einer Einheit zusammenwuchsen. Erlebte Musik heißt hier also, daß das ganze Ensemble die musizierte Musik zu einem bestimmten Zeitpunkt auch gleich empfindet und umsetzt.
Ich will im Folgenden versuchen, das Singen im Singkreises unter drei Aspekten noch ein wenig genauer zu beschreiben und verständlich zu machen und nehme dabei den Begriff der „Bildung“ (die Fritz Stolle immer ein wichtiges Anliegen gewesen ist) zu Hilfe:
Singen als Gemeinschaftsbildung
Eine Gruppe definiert sich u. a. durch ihr gemeinsames Liedgut. Das Singen im Singkreis äußert sich im Wesentlichen in zwei Erscheinungsformen, den Chorproben und dem „geselligen“ Singen. Das Darbieten des Erarbeiteten in Konzerten spielt dagegen eine untergeordnete Rolle.
Chorproben bedeuten zunächst einmal konzentrierte Arbeit, Mühe und Anstrengung. Im Idealfall begeistert ein Stück schon bei den ersten Tönen so stark, daß die ganze Probenarbeit unter dem Ausdruck des Vergnügens als „Kür“ verstanden werden kann. Doch ist dies nicht die Regel. Oft ist eben erst nach einer tüchtigen Portion Anstrengung und Mühen ein Stand erreicht, der den Sängern einen Eindruck von einem Stück vermittelt, der zu Akzeptanz und schließlich auch zu Freude und Begeisterung führt. Zum Glück geschieht es nur äußerst selten, daß ein Stück vom Chor nicht angenommen wird – und auch hier sind es nicht zuletzt meist die Begleitumstände seiner Einführung, die den Erfolg eines Stückes negativ beeinflussen.
Auch wenn Proben nicht immer nur Spaß machen können – besonders wenn bereits viele anstrengende Probentage einer Singwoche hinter einem liegen – , so sind sie doch eine wichtige Voraussetzung für die Gemeinschaftsbildung in einem Chor. Das Entscheidende ist, nach festen Regeln zusammen zu singen, wobei rasch erkennbar wird, daß erst durch das Zusammenfügen der Teile (der einzelne Stimmen) ein Ganzes, der Chorsatz entsteht. Mag die eigene Stimme auch noch so schön sein, ihre wirkliche Bestimmung erschließt sich erst im Zusammenklang mit den übrigen Stimmen. Auch die Ausformung des Chorklangs bringt es mit sich, daß die Stimme des einzelnen zwar notwendig ist, sich letztlich aber dem Gesamtklang ein- und unterordnen muß. Es sind so mehrere Erfahrungen, die der Chorsänger in jeder Probe wieder neu macht, nämlich wie aus unterschiedlichen Stimmen ein wunderbarer Chorsatz entsteht, und wie aus vielen Einzelstimmen sich Schritt für Schritt ein Chorklang entwickelt, der die einzelne Personen in sich aufnimmt und im Mitsingen und Mithören gleichzeitig weit über sich hinaushebt. Es sind also äußerst gegensätzliche Erfahrungen, die man als Chorsänger machen kann und muß: der Verlust der Individualität und das Aufgehen in der Gesamtheit der Chorgemeinschaft einerseits und das Aus-Sich-Heraustreten, der Enthusiasmus andererseits, der der eigenen Seele Flügel verleiht und sie über den Alltag hinaus aufsteigen läßt. Letztere musikalische Erfahrung reicht an ein Empfinden des Überirdischen heran, das jedem Sänger immer wieder einmal beschieden sein mag, das erstere läßt ihn sich als Teil einer Gemeinschaft erleben, die im gemeinsamen Singen eine große gemeinsame Freude und Befriedigung erfährt.
- Spontanes Singen in der Fußgängerzone
- Hannoversch Münden, 2004
- Singen im Freien
- Hemeln, 2004
Singen als musikalische Bildung
Es muß noch einmal vom Repertoire die Rede sein, wenn die musikalische Bildung thematisiert wird, denn musikalische Bildung und Ausbildung erfüllt sich primär durch die konkrete Arbeit an den Stücken. Repertoire meint die Stücke (oder Tänze), die uns als „wesensmäßig“ zugehörig empfunden werden. Damit ist die Musik angesprochen, mit der wir uns identifizieren. Dazu reicht es nicht, daß sie gefällt oder auch gern gesungen wird, sondern der jeweilige „Stil“ der Musik muß auch adäquat erfüllt werden können. Wo dies nicht möglich ist, kann man zwar ein Stück gewissermaßen im „stillen Kämmerchen“ zum Spaß auch singen, es wird aber keine längere Präsenz eben als Repertoire erfahren.
An erster Stelle steht natürlich das „klassische“ Singkreisrepertoire, das über mehrere Singkreisgenerationen beinahe unverändert geblieben ist und immer wieder weitergegeben wurde. Dieses Repertoire verbindet also die verschiedenen Singkreisgenerationen, verbindet aber auch den Nordsingkreis mit dem Südsingkreis und dem Altsingkreis. Von diesen Repertoirestücken können einige auf eine ununterbrochene Rezeption über die Jahrzehnte zurückblicken, andere werden in regelmäßigen Abständen immer wieder hervorgeholt und aufgefrischt oder bei Bedarf neu einstudiert. Freilich geraten auch hin und wieder Stücke, die sehr lange zum Repertoire gehörten, in Vergessenheit und werden allenfalls im Zusammenhang mit Jubiläen wieder erinnert. Zu diesem „klassischen“ Singkreisrepertoire gehört ein großer Teil der Volksliedsätze, eine ganze Anzahl von Stegreifsätzen und Jodlern, einige „Alte Madrigale“ wie Nun fanget an von H.L. Haßler und ein Grundbestand an geistlicher Chormusik: die Missa brevis von Andrea Gabrieli, Verleih uns Frieden von Heinrich Schütz, Ehre und Preis, Zwingt die Saiten und Gloria sei dir gesungen von J.S. Bach, Locus iste von Anton Bruckner und Lobe den Herren von Hugo Distler.
Zum weiteren Singkreisrepertoire zählen ferner die großen Chorkompositionen von Fritz Stolle. Bei diesen Kompositionen ist es kaum möglich, immer alle Stücke „vorrätig“ zu halten, so daß einzelne Stücke gewissermaßen zyklisch im aktuellen Repertoire auftauchen. Während Ende der 70er Jahre die Arbeit an den Chorsätzen, die dann im „schwarzen“ Singkreis veröffentlicht wurden, noch mit Fritz Stolle selbst für jeden Chorsänger eine „Ehrensache“ war, hat sich dies in dem Maße, da die Sängerinnen und Sänger Fritz nicht mehr persönlich kennen, doch deutlich gewandelt. So unbestritten die Volksliedsätze sind, so sehr müssen sich die großen Chorsätze dem Vergleich mit der „klassischen“ Chorliteratur schlechthin stellen. Fritz Stolles Chorlieder und der Sonnengesang stehen in „Konkurrenz“ zu Chorwerken beispielsweise von Brahms, Dvořak oder Britten, d.h. sie genießen keinen an die Person geknüpften Bonus mehr, sondern müssen durch ihre Qualität überzeugen. Das ist aber gar keine schlechte Voraussetzung für die Beschäftigung mit diesen Chorwerken, denn durch die Reibungen an einem Werk können sich auch ganz neue Dimensionen eröffnen und ein tieferes Verständnis für das Werk einstellen.
Einen dritten Komplex bilden die „Alten Madrigale“. Hier haben wir uns mit Jungfrau dein schön Gestalt von Haßler und Gott b’hüte dich von Lechner bereits Mitte der 70er Jahre zwei wahre Hits neu erarbeitet. Später kamen weitere Stücke von Lechner und vor allem Monteverdi hinzu, die jeweils für einige Jahre immer wiederkehrten. Bewußt wurde bei den Madrigalen also der Blick über das Repertoire der „Geselligen Zeit“ hinaus geweitet hin zur europäischen Madrigallandschaft, wobei es selbstverständlich wurde, die italienischen und englischen Madrigale sowie die französischen Chansons in ihrer Originalsprache erklingen zu lassen.
Romantische Chormusik war unter Fritz Stolles Leitung noch weitgehend verpönt. Hier hat sich in den letzten 20 Jahre der vielleicht stärkste Wandel vollzogen in der Absicht, das Chorwerk Fritz Stolles aus seiner singkreisgebundenen Isolation zu befreien und in Beziehung zu setzen zu romantischer oder anderer neuerer Chormusik. So kamen Brahms und Mendelssohn-Bartholdy, Bruch und Distler, aber auch Dvořak und Saint-Saёns, Britten und Vaughan Williams sowie verschiedene skandinavische Komponisten zu ihrem Recht; auch hier wurde es selbstverständlich, in den Originalsprachen zu singen.
Im Bereich der geistlichen Chormusik waren die Neuerungen weniger bedeutsam. Hier kam es vor allem zu einer Ausweitung des Repertoires, weniger zu einer Neuorientierung. Die „alten Meister“ blieben ein Schwerpunkt unserer Arbeit, vor allem Schütz, Lasso, Palestrina und Monteverdi. Bruckner fand romantische Begleitgestirne durch Brahms und Reger. Am bedeutsamsten in diesem Bereich sind aber die Neuentdeckungen bei Fritz Stolle selbst, auf die noch einzugehen ist.
- Generalprobe der Lukas-Passion von Fritz Stolle
- Uraufführung in der Petruskirche
- Heidelberg-Kirchheim, 2009
Der Wandel und die Erweiterung im Repertoire hat ihre Entsprechung in der Akzeptanz unterschiedlicher Musikstile. Die Ablehnung bestimmter Musiktraditionen ist einer kritischen Offenheit gewichen. Es darf auch einmal etwas ausprobiert werden, selbst wenn am Ende die Erkenntnis steht, daß es nicht gefällt oder daß es unserer musikalischen Intention nicht entspricht. Das heißt nicht, daß ein Indifferentismus bei der Auswahl der Stücke zum Tragen käme. Das Gegenteil ist der Fall: Bei der Fülle an guter Chorliteratur muß die Auswahl nach klaren Kriterien erfolgen und darf sich nicht in Beliebigkeit ergehen. Wir wollen nicht primär das singen, was jeder andere Chor auch singen könnte. Daher bleibt die wichtigste Orientierung am Werk Fritz Stolles bestehen. Aber es wird – wie gesagt – in Beziehung gesetzt zu anderer, auch „zeitgenössischer“ Chormusik. Darin greifen wir ein wichtiges musikpädagogisches Anliegen Fritz Stolles selbst auf, die seine Chormusik im Kontext der Musik des 20. Jahrhunderts und unserer europäischen Musikgeschichte insgesamt sieht, ein Kontext, auf den Fritz Stolle auch mit seiner kreativen Aneignung verschiedener musikalischer Stile von der Gregorianik bis zur Gegenwart gewiesen hat.
Das Repertoire des Nordsingkreises des letzten Vierteljahrhunderts besticht durch seine Vielseitigkeit, in dem das Werk Fritz Stolles aber selbstverständlich im Zentrum steht. Diese zentrale Bedeutung der Kompositionen von Fritz für unsere Chorarbeit äußert sich nicht zuletzt in der Wieder- und Neuentdeckung vieler Chorsätze, die nur handschriftlich überliefert waren und für die Probenarbeit erst zubereitet werden mußten. Zu diesen Entdeckungen zählen die kleinen Chorlieder wie die Verborgenheit, Frühling läßt sein blaues Band, das Leibrößlein oder der Eichendorffsche Gärtner, Psalmvertonungen und Kanons, aber auch große Werke wie Ein neu Gebot, die Orgelmesse oder jüngst die große A-cappella-Messe. Ein wichtiger Antrieb bei dieser „Pionierarbeit“ war die Neugier am Werk Fritz Stolles und ein großes Interesse, immer wieder Neues kennenzulernen, um so auch die Basis für die Arbeit des Singkreises zu festigen. Dieses Konzept hat sich insgesamt bewährt. Die durch Leitbilder gesteuerte Vielseitigkeit auch des chorischen Repertoires ist eine der Voraussetzungen, die auch den jungen Sängerinnen und Sängern die Freude am chorischen Singen wach hält.
Die zahlreichen Neuentdeckungen aus dem Werk Fritz Stolles brachten es mit sich, daß viele seiner Werke durch den Nordsingkreis auch uraufgeführt wurden, so der Eichwald (1983 in Mardorf bei Himberg), Ein neu Gebot 1990 in Rotenburg/Fulda, der Zyklus 12 neue Weihnachtslieder in verschiedenen Besetzungen 1990 in Eschwege, das Lied vom Winde (Sausewind) 1994 auf dem Ludwigstein, das Kyrie aus der großen Messe 2004, mehrere der Chorlieder und Kanons 1988, die geistlichen Volkslieder (darunter Ich weiß ein schönes Engelspiel), viele der dreistimmigen Sätze und eine große Anzahl von Weihnachtsliedern bereits lange vor der Herausgabe des blauen Singkreises (1994). Die Orgelmesse wurde im Singkreis erstmals vollständig 1998 in Erbach aufgeführt, war freilich zu großen Teilen schon in Homberg 1983 erklungen. Voraussetzung für all diese Leistungen war die Bereitschaft des Chores, aus den Handschriften zu singen, bei denen anfangs nur die Textunterlegung bearbeitet wurde. Mit dem Einsatz von Notenschreibprogrammen am PC wurde für die Chorarbeit manches einfacher.
Nicht zu vernachlässigen ist die musikalische Bildung am Detail. Hier möchte ich nur zwei Aspekte kurz benennen. Ein wichtiges Anliegen von Fritz Stolle war es immer, die in seinen Augen wertvollen Volkslieder durch seine „Bearbeitungen“ zu Kunstliedern zu machen. Kunst ist hier nicht im Sinne von „künstlich“ mißzuverstehen, sondern als „Kultivierung“ eines guten und fruchtbaren Stammes, um ihn zur Blüte zu bringen und den Wert des Ursprünglichen zur Geltung zu bringen. Das verbindet Fritz Stolle neben anderem mit Mozart, der in ähnlicher Weise einfachste Melodien höchst kunstvoll verarbeitete und so zu Bestandteilen von herausragenden Werken der Musikgeschichte machte. Die Fähigkeit Fritz Stolles mit einfachen Mitteln aus einfachstem Material vollkommene Gebilde zu schaffen, ist einer der Züge, die seinem Werk Dauer verleihen werden. Doch dies zu erkennen und zu schätzen, bedarf es auch der entsprechenden „Bildung“. Der zweite Aspekt ist mehr technischer Art: Wie die Atemschulung war auch die Gehörbildung immer ein zentraler Bereich der Chorarbeit Fritz Stolles. Musik zu hören und sauber zu intonieren entspricht einer Verfeinerung der Sinne auch in anderer Hinsicht. Geschult wird so auch die Wahrnehmungsfähigkeit nicht nur im musischen, sondern auch im mitmenschlichen Bereich. Damit soll abschließend noch kurz auf eine weitere Funktion des Singens im Singkreis eingegangen werden:
Singen als Persönlichkeitsbildung
Vermitteln eines gesunden Selbstbewußtseins und einer gesunden Selbstkritik, Erfahren einer Verantwortung des einzelnen für das Ganze, Ergründen der eigenen Fähigkeiten und Grenzen, Differenzierung der Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung durch die erwähnte Schulung der Wahrnehmungsfähigkeit – all dies und mehr sind Eigenschaften, die durch das Singen im Chor, der sich als Gemeinschaft, als Freundeskreis und „Familie“ empfindet, gefördert und geschärft werden. Soziales Lernen und Erkennen durch musische Arbeit ist zwar nie Programm der Arbeit im Singkreis gewesen, hat faktisch aber enorme Auswirkungen gezeigt. Die Fähigkeit zur Integration unterschiedlicher Charaktere und unterschiedlichster Standards der musischen Bildung ist eine Stärke des Singkreises und ist eine wesentliche Voraussetzung seines Bestehen über 50 Jahre hinweg. Da singt der 70jährige neben dem 15jährigen Neuling, die beide zwangsläufig ja auch einen Teil ihrer Freizeit miteinander verbringen. Ein Generationenkonflikt kann da nicht aufkommen, wo die kreativen Fähigkeiten gewürdigt und individuelle Schwächen hingenommen werden. Im musischen Bereich müssen die Älteren zudem oft eingestehen, daß die Jüngeren sie oft bereits nach wenigen Singwochen überflügelt haben. Das erzeugt keinen Neid, sondern Befriedigung und Stolz. Hierfür mag beispielhaft unsere „Singkreismutter“ Ursel Erben stehen, die vieles selbst gar nicht mehr mitmachen kann, dennoch aber nach wie vor eine wichtige Leitfigur darstellt, weil sie einerseits ihre Fähigkeiten und Erfahrung dem Kreis selbstlos zur Verfügung stellt, dafür im Gegenzug aber viel Freude und Bestätigung durch die Arbeit und das Auftreten der Gruppe erfährt. Niemand soll isoliert sein, alle sollen stolz auf das sein können, was durch gemeinsame Anstrengung erreicht wird. Wo sonst ist es noch möglich, daß junge Menschen mit der besten musikalischen Vorbildung selbstverständlich auch den Chorsänger akzeptieren und mit ihm auf ein gemeinsames Ziel zusteuern, der noch nicht einmal Noten lesen kann und Schwierigkeiten in der Kontrolle seiner Stimme hat?
Niemand ist ausgeschlossen; das ist wohl gemeint, wenn junge Menschen mit Genugtuung feststellen, daß im Singkreis kein Leistungsdruck besteht, obgleich wir uns hohe musikalische Ziele gesetzt haben und eine konzentrierte Probenarbeit erwarten. Dort wo jeder nach seinen Möglichkeiten sich in die Gemeinschaft einbringt, ist dies auch ein Gewinn für die Gemeinschaft. Eine Belastung entsteht nur dort, wo individuelle Grenzen nicht akzeptiert oder als Minderwertigkeit der eigenen Person mißverstanden werden. Wenn die Chorarbeit die Wahrnehmungsfähigkeit im mitmenschlichen Bereich stärken und damit zu einem besseren Verständnis füreinander führen kann, ist nicht nur ein Gewinn für die eigene Person zu verbuchen, sondern auch eine Stärkung der Gruppenidentität und Gemeinschaft zu verzeichnen. So greifen die verschiedenen Aspekte zuletzt wieder ineinander: Chorisches Singen ist eben nicht nur musische Bildung, sondern auch Gemeinschafts- und Persönlichkeitsbildung.
Wenn wir darüber hinaus nach dem Spezifischen „erlebter Musik“ im Nordsingkreis fragen, dann werden wir immer wieder auf das Werk Fritz Stolles verwiesen, dem unsere Liebe und Zuneigung gilt, und auf unsere Art zu musizieren, die auf der musischen Erziehungsarbeit Fritz Solles gründet.
Udo Wennemuth
Literatur:
Udo Wennemuth, Fritz Stolle zum 80.
Geburtstag. In: Der Heimatpfleger 1/1988, S. 15-17; Udo Wennemuth,
Einführung in das kompositorische Werk Fritz Stolles. In: Lebendige Musik.
Zugänge zu seinem kompositorischen Werk. Fritz Stolle zum 80. Geburtstag.
Im Auftrag des Iglauer Singkreises herausgegeben von Udo Wennemuth. Verlag
Gemeinschaft Iglauer Sprachinsel e.V. 1988. S. 17-27; dort S. 39-130 auch das
Verzeichnis der Werke Fritz Stolles; Udo Wennemuth, 40 Jahre Iglauer Singkreis
– 80 Jahre Fritz Stolle. In: Mährischer Grenzbote 8-9/1988, S. 1-4;
Udo Wennemuth, Nachruf auf Fritz Stolle. In: Der Heimatpfleger 3/1988, S.
25-26; Udo Wennemuth, Friedrich (Fritz) Stolle. In: Ostdeutsche
Gedenktage 1998. Bonn 1997, S. 165-169.