Fritz Stolle (1908-1988) ist der Gründer und langjährige Leiter des Iglauer Singkreises. Er
schrieb zahlreiche Chorsätze für den Singkreis uns begeisterte als Musikpädagoge viele Menschen
für die Musik. Sein vielfältiges kompositorisches Werk zeichnet sich durch einen unverwechselbaren
persönlichen Stil aus.
Der nachfolgende Beitrag ist erstmals erschienen in:
(Ostdeutsche Gedenktage 1998. Persönlichkeiten und Historische
Ereignisse, hrsg. von der Kulturstiftung der deutschen
Vertriebenen, Bonn 1997, S. 165-169.)
Der Komponist und Musikpädagoge Fritz Stolle ist trotz der
unbestreitbaren Meisterschaft seiner Werke und einer Reihe
von Ehrungen (unter anderem durch die Künstlergilde Eßlingen)
weitgehend unbekannt geblieben. Das liegt wohl zum einen an
seiner Persönlichkeit, die zunehmend einen intimeren Wirkungskreis
bevorzugte, zum anderen an seinen Kompositionen, die sich keinem
Zeitstil zuordnen lassen: Fritz Stolle war ein "Unzeitgemäßer".
Ob die Zeit zehn Jahre nach seinem Tode bereit ist, die Rezeption
gerade seiner wichtigste Werke einzuleiten, muß vorerst skeptisch
beurteilt werden.
Werdegang
- Marktplatz Iglau (Jihlava)
Fritz Stolle wurde als Sohn des Straßenbaumeisters Josef Stolle
und seiner Ehefrau Ottilie, geb. Strache, in Nordböhmen geboren.
1927 legte er an der Oberrealschule in Aussig das Abitur ab.
Nach einer Lehre im väterlichen Straßenbauunternehmen begann er
ein Musikstudium an der Deutschen Musikakademie in Prag als
externer Schüler bei Professor Leo Franz in den Fächern Klavier,
Kontrapunkt, Harmonielehre, Komposition und Musikgeschichte.
Seit 1934 unterrichtete er Musik in Aussig, seit 1936 Musik und
Religion in Leitmeritz. 1936 heiratete er Hilde Hein; aus der Ehe
gingen drei Kinder hervor. 1940 wurde Stolle als Leiter an die
Musikschule nach Iglau (Mähren) berufen. Nach Flucht und
Vertreibung ließ er sich mit der Familie zunächst in Hebertshausen
bei Dachau nieder; über die Stationen Rotenburg a. d. Fulda und
Ludwigstein kam er als Lehrer nach Willingen (Waldeck).
Nach der Pensionierung wohnte er in Homberg/Efze.
Das musikpädagogische Wirken
Fritz Stolle war als Musikpädagoge eine segensreiche Wirkung in
der Schule und in zahlreichen Laienensembles beschieden. Sein
Bestreben war es, in das "Wesen" des Musikalischen einzuführen,
Musik in ihrem Elementaren zu begreifen und zu verinnerlichen.
Um dieses Ziel zu erreichen, griff er nicht selten auf eigene
Werke zurück. Seine Kompositionen für unterschiedliche
Laiengruppen - Liedkantaten für die Schule, Sätze zu mehreren
hundert Volksliedern und -tänzen, Bläserstücke, kleine geistliche
Kompositionen - entstanden fast durchgängig unter musikpädagogischen
Gesichtspunkten. In Anspruch und Besetzung waren die Stücke dem
Bedürfnis und dem Können der jeweiligen Adressaten angepaßt.
Stolle entwickelte eine besondere Fähigkeit, mit einfachsten
Mitteln zu schreiben, ohne auf musikalische Substanz zu verzichten.
So entstanden gerade auch in der kleinen Form vollendete
Meisterwerke.
Musik und Bewegung
- Fritz Stolle bei Chorprobe
- Sensenstein, Sommer 1959
Ein Grundgedanke seines musikpädagogischen Wirkens war die
Verbindung von Musik und Bewegung. Singen und Tanzen als bewegtes
Musizieren, körperliches Empfinden von musikalischer Bewegung
durch Spannung und Entspannung waren stetiger Bestandteil seiner
Chorarbeit; dies bestimmte den Charakter der kleinen, aus der
Volksmusik schöpfenden Kompositionen. Bleibenden Eindruck
hinterließ Fritz Stolle besonders im Iglauer Singkreis, für den er
die meisten seiner Chorwerke, darunter auch große geistliche und
weltliche Werke für Chor a cappella, geschrieben hat.
Doch während das Schaffen Fritz Stolles für und mit Laiengruppen
in vielfältiger Weise wirksam war, blieb die ganze Persönlichkeit
des Komponisten selbst vielen der ihm Nahestehenden verborgen.
Der Schwerpunkt und letztlich das Gültige seines musikalischen
Werkes wurde von ihnen in der "Volksmusik" gesehen. Fühlte sich
Stolle schon aus der Tradition der Jugendbewegung dem Erbe der
Volksmusik (die bei ihm nichts mit "Volkstümlichkeit" zu tun hatte)
stets verpflichtet und gelegentlich über das Medium des
Volksliedes zur "volkspädagogischen" Mission durch die
musikalische Erziehung junger Menschen berufen, so sah er als
Künstler eine seiner Aufgaben gerade in der Verbindung dieser
musikalischen Urquelle mit der Kunstmusik: aus dem "Volkslied"
sollte durch den Satz ein "Kunstlied" im besten Sinne entstehen.
Karrierebruch
- Rathausportal Iglau (Jihlava)
Fritz Stolle sah sein Wirken nicht ausschließlich und
ursprünglich, nicht einmal bestimmend in seiner Bindung an die
Musikerziehung. Die Nichtbeachtung seiner großen ambitionierten
Kompositionen hängt unmittelbar mit seinem Lebensschicksal
zusammen. Während er in der Zeit seines Wirkens in Iglau engen
Kontakt zur professionellen Musikpraxis unterhielt, war ihm durch
Flucht und Vertreibung die Kraft genommen, sich ein ähnliches
Beziehungsfeld in der neuen Heimat aufzubauen. Nichtsdestoweniger
sind auch nach 1945 zahlreiche Kompositionen von Rang entstanden,
doch wurden sie niemals einem Verlag angeboten noch für
Aufführungen vorbereitet. Vor diesem Hintergrund überrascht es
nicht, daß einige der großen Entwürfe nicht fertiggestellt wurden
oder nur in schwer lesbarer Handschrift vorliegen.
Tradition und Moderne
- Tor der Mutter Gottes Iglau (Jihlava)
Stolles große Kompositionen, überwiegend Kammermusik, stehen
zunächst in der klassisch-romantischen Musiktradition. Gerade
im Formalen hat Stolle immer wieder neu die Möglichkeiten dieser
Tradition auszuschöpfen gesucht. Das Klangempfinden war anfangs
von der Spätromantik (besonders Reger) stark geprägt, jedoch schon
immer verbunden mit Klangbildern, die dem Impressionismus
nahestehen. Die Werke der 40er Jahre weisen zudem auf eine
intensive Auseinandersetzung mit der Zwölftonmusik hin. Tief
verwurzelt in der Musiktradition, entwickelte Stolle eine eigene
Tonsprache, die in der Aneignung und Weiterentwicklung archaischer
Strukturen ihren Ausgang nimmt; lineare und modale Elemente gehen
hierbei eine eigenartige Synthese ein. Kennzeichen der
Kompositionen ist die Linearität der Stimmführung: jede Stimme
erscheint als die charakteristische Abwandlung der Melodiestimme.
Der durch die melodische Komponente bestimmte streng polyphone
Satz erfährt eine subtile Ergänzung durch die Arbeit mit
rhythmischen Elementen, von Verkürzungen und Taktwechseln bis zur
Verwendung komplementärer Rhythmen. Musizieren wird unmittelbar
als ein lebendiges Miteinander eigenständiger Stimmen verstanden
und nachvollziehbar. Die Tonalität bleibt im ganzen gewahrt,
jedoch nicht unhinterfragt, sondern in vielfältigen Brechungen
und Abbrüchen, die ebenso atonale wie polytonale Verhältnisse
zuläßt. Die Klangsprache ist verhalten, herb und hier und da
sogar spröde, gleichzeitig tragen viele seiner Instrumentalwerke
eine Tendenz zu orchestraler Fülle in sich. Ausdruck dieser
inneren Spannung ist auch das Gegenüber von eher deklamatorischer
oder rezitativischer und volksliednaher Melodik. In Stolles
späterem Schaffen erfuhr bezeichnenderweise die Behandlung der
Dissonanz eine neue Qualität; sie erklärt sich nicht mehr aus der
harmonischen Organisation des Stückes, sondern zunächst und vor
allem aus der Linienführung der Stimmen. Daß diese Erscheinungen
auch in den Volksliedbearbeitungen zu beobachten sind, ist ein
deutlicher Hinweis auf den allein vom künstlerischen Anspruch
ausgehenden Zugriff auf das Melodienmaterial der Volksmusik.
Das Werk
Unter den Frühwerken Stolles ragen hervor ein Quartett für Flöte
und Streicher (1940), drei Sonaten für Violine und Klavier
(1943-45), Klavierwerke von der großen Sonate bis zum kleinen
Charakterstück, mehrere Klavierliedzyklen, unter denen die
Eichendorffvertonungen (1944-47) zu einem Seelengemälde des
Komponisten zu gerinnen scheinen, einige große Chorwerke und
schließlich das einzige erhaltene vollständige Werk für großes
Orchester, die Schauspielmusik zu Die Braut von Messina (1944),
eine Auftragskomposition für das Theater der Stadt Iglau, die
infolge des Zusammenbruchs 1945 nicht mehr zur Aufführung
gelangte. Das Oeuvre der Nachkriegszeit ist besonders durch
zahlreiche Volksliedsätze charakterisiert. Daneben stehen auch
hier zahlreiche Klavierkompositionen eher kleineren Umfangs, eine
herrliche Opernparodie (Die Nacht des Schicksals), wiederum eine
Reihe von Klavierliedern, unter denen die Zwölf neuen
Weihnachtslieder (1953) eine besondere Stellung einnehmen,
Streicherstücke, Schauspielmusiken für Puppen- und Märchenspiele,
Liedkantaten, eine Orgelmesse und eine Passion, die - wie Distlers
Choralpassion - auf das Vorbild der Schützschen Passionen
zurückgeht. Das Spätwerk des Meisters setzt mit Beginn der 60er
Jahre ein. Einige frühere Kompositionen wurden überarbeitet oder
für Orchester bearbeitet. In den großartigsten Werken dieser
Periode offenbart sich der Künstler unmittelbar: in der
Konsequenz seiner Tonsprache, der Wahl der musikalischen Gattung,
der Beschränkung der Mittel. Das zeigt sich vor allem in den
Fünf Liedern auf Gedichte von Georg Trakl (1961/62), den Fünf
Chören auf Gedichte von Peter Huchel (1974/75) und dem
Sonnengesang des Franz von Assisi (1977). Mit diesen Werken
schließt Fritz Stolle an die ambitionierten Kompositionen der
Iglauer Zeit an, wenn auch gerade die Tonsprache erhebliche
Veränderungen erfahren hat. Zu entdecken bleibt also weiterhin
ein hochinteressantes Werk, das eine Fülle von Facetten der
Musikgeschichte unseres Jahrhunderts in sich trägt.
Fritz Stolle starb am 5. Juli 1988 in Homberg/Efze.